Abschied von der starren Hierarchie

Olivia Ruffiner

Ein Experiment in Selbstorganisation: Das Amt für Arbeitslosenversicherung (AVA) setzt auf Transformation und wagt neue Arbeitswege. Inge Hubacher hat in ihrer Karriere bereits viel erlebt. Elf Jahre arbeitete sie beim Amt für Gemeinden des Kantons St. Gallens, davon neun Jahre als Vorsteherin. Dann wechselte sie zur Sozialversicherungsanstalt (SVA) des Kantons Aargau, drei Jahre später zog es sie nach Bern. Hier übernahm sie zunächst die Stelle als Vorsteherin des Kantonalen Sozialamts, seit 2021 führt sie nun das Amt für Arbeitslosenversicherung (AVA) mit rund 500 Mitarbeitenden. «Bei meinem Amtsantritt war von Anfang an klar, dass die Organisation zu gegebener Zeit überprüft werden sollte», sagt sie. Dabei begleitete sie ein grosser Wunsch: die Schaffung eines selbstorganisierten Teams. Beispiele solcher Teams finden sich in der Privatwirtschaft viele, von hippen Unternehmen wie Freitag bis zu Versicherungen wie Axa. Die Transformation eines Amts, das oftmals starre Strukturen und Hierarchien aufweist, war eine grosse Aufgabe – an die Hubacher aber glaubte: «Hinter dem selbstorganisierten Team stand die Hypothese, dass ein solches Team besser funktioniert als ein Team mit einer Teamleitung.» Was als Experiment der Vorsteherin startete, wurde der Vorläufer für eine amtsübergreifende Transformation.

Ruhig starten und alle abholen

Unabhängig vom selbstorganisierten Team kam auf Hubacher 2024 die Überprüfung der Organisation des AVA zu: Fünf Standorte werden geschlossen, von 474 Mitarbeitenden mussten sich 103 für eine Führungsfunktion oder administrative Stelle neu bewerben, und 109 Personen wurden an einen anderen Standort oder in ein neues Team versetzt. Ziel sei, die Hauptstandorte zu stärken, neue Kundenkanäle zu schaffen und die häufigsten Verfahren zu digitalisieren. Und schlanker zu werden: «Das AVA entwickelt sich von einer eher hierarchischen Struktur hin zu flacheren Hierarchien», hiess es in der Mitteilung dazu im August. Flachere Hierarchien sind auch das, was Hubacher für ihr Team wollte. Lange vor der grossen Reorganisation kontaktierte sie dafür die Unternehmensberatung Generation Purpose. Deren Inhaberinnen Nadja Schnetzler und Laurent Burst bieten Kurse und Workshops an, in denen neue Wege der Zusammenarbeit entdeckt werden. Beim AVA starteten sie sanft: «Wir überliessen den Mitarbeitenden selbst die Wahl, wie stark sie sich mit neuen Formen der Zusammenarbeit beschäftigen wollen», so Hubacher. Mit einem ersten Informationsanlass wollte sie die Belegschaft abholen, ihnen die beiden Transformiererinnen, deren Werkzeuge und die geplanten Workshops vorstellen. Die gesamte Kursreihe war für die Mitarbeitenden freiwillig, stiess aber auf reges Interesse. An der ersten Veranstaltung nahm knapp die Hälfte der Belegschaft teil. «Das war ein grosser Erfolg», erinnert sich Hubacher. Und doch, die andere Hälfte war noch nicht an Bord. Etwas, das Schnetzler und Burst oft beobachten: Jeder und jede Mitarbeitende hat ein eigenes Tempo. Untereinander nennen sie die verschiedenen Personen und ihre Geschwindigkeiten auch «Schnecken, Schiffe und Raketen». «Die Raketen sind diejenigen, die sofort loslegen wollen. Die Schiffe brauchen noch etwas Überzeugung, und die Schnecken brauchen etwas mehr Zeit – ganz ohne Wertung», so Schnetzler. Sie erwähnt, dass sich gerade dieses flexible Tempo unter den Angestellten auszahle. Das bestätigt Hubacher: «Wir hatten viele Mitarbeitende, die wirklich die Ärmel hochkrempelten und sich in das Projekt einbrachten.» Diese waren es auch, die nach den ersten Monaten in einem zweiten unternehmensweiten Meeting von ihren Erfahrungen berichteten. Durch die Erzählungen der Raketen, die bereits Veränderungen anregten, sprangen weitere – die Schiffe – mit auf und nahmen an den nächsten Kursen und Workshops teil. Die einzige Regel in diesem Kurszyklus und verbunden damit im Transformationsprozess lautete, andere nicht zu bremsen. «Man musste es nicht mögen, aber man durfte niemandem im Weg stehen, der etwas Neues ausprobieren wollte.» Kreativer Werkzeugkasten im Gepäck Was führte dazu, dass die Mitarbeitenden ihre anfängliche Skepsis überwanden und Enthusiasmus zeigten? Laut Hubacher findet sich die Lösung im Werkzeugkasten von Schnetzler und Burst: «Sie zeigten Mittel, die direkt umsetzbar waren», meint Hubacher. Ein Beispiel sei der Workshop «Meine Betriebsanleitung»: Ein Team von zehn Personen kommt für zwei Stunden zusammen, in denen jedes Mitglied eine Betriebsanleitung von sich erstellt: Was mache ich gerne, was eher weniger? Was bremst mich in meinem Arbeitsalltag? Was fördert meine Produktivität? Eine Übung, die sich vor allem für Teams empfiehlt, die noch nicht lange in ihrer aktuellen Zusammenstellung arbeiten. Ein weiteres Werkzeug, das Hubacher als Gamechanger bezeichnete, heisst «Schreiben und zuhören». In klassischen Teamsitzungen dominieren oft dieselben Personen, während andere nie etwas sagen. «Dabei bleibt so viel Potenzial ungenutzt», sagt Burst und erläutert die Methode: Alle Teilnehmenden notieren ihre Gedanken zu einer Frage auf Zettel, die anschliessend vorgelesen werden – ohne direkte Diskussion. Burst: «Das gibt leisen Stimmen Raum und sorgt für neue Dynamiken im Team.»

Von oben nach unten und umgekehrt

Die Transformation des AVA funktionierte nicht nur von oben nach unten, sondern auch umgekehrt. Die Möglichkeit, an Kursen teilzunehmen, gab Mitarbeitenden die Chance, selbst Impulse zu setzen. «Plötzlich probieren die Teams etwas aus und entwickeln neue Formate», sagt Hubacher. So entstand das Format «Aus der Praxis für die Praxis», das Mitarbeitenden den Raum für Wissenstransfer bietet. «Unabhängig vom Hierarchiegrad teilen hier Mitarbeitende ihr Wissen.» Der Rahmen ist eine Hybridveranstaltung, die jeweils über Mittag stattfindet und an der zwischen 100 und 200 Personen teilnehmen. Neben dem Interdisziplinären hatte die Transformation auch zum Ziel, sich auf das Kerngeschäft konzentrieren zu können. Um das zu erreichen, forderten Schnetzler und Burst in einer Retraite Antworten der AVA-Führungspersonen auf die Fragen: Warum macht ihr das, was ihr tut? Was ist euer Purpose? Ziel war, mittels eines Satzes den Sinn und Zweck des AVA zu definieren. Für das AVA lautet die Antwort: «Wir unterstützen Menschen, mutig und unabhängig ihren Weg in der Arbeitswelt zu gehen, und begegnen einander auf Augenhöhe, stärken Potenziale und vertrauen auf Fähigkeiten.» Das Verständnis der eigenen Aufgabe sowie die neuen Formen des Zusammenarbeitens breiteten sich im Amt aus und nahmen eine Eigendynamik an. Heute arbeiten 90 Prozent der Belegschaft nach neuen Methoden – und selbst die restlichen 10 Prozent können sich dem Effekt kaum entziehen. Hubachers Fazit nach einem Jahr: «Die Mitarbeitenden haben grösstenteils die Angst verloren, sich einzubringen. Sie wissen: Es ist egal, wo sie im Organigramm stehen, sie können, dürfen und sollen etwas verändern und gestalten. Und das ist für eine Organisation das wichtigste Kapital.» Lade dir hier eine PDF-Version dieses Artikels runter PDF herunterladen
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