Im Meeting schweigen die Falschen

Wie Sie das systemisch auf einfachste Weise ändern

Nadja Schnetzler und Laurent Burst


Dieser Artikel erschien im Magazin «Mediation» Ende September 2024

Teamsitzungen geraten oftmals zur Qual für alle Teilnehmer*innen – einige reden viel und sagen wenig, die Mehrheit hält sich zurück. Das Ergebnis ist entsprechend dürftig. Die Chance, alle Potenziale eines Teams einzubeziehen, sie zu entfalten und zu nutzen, wird vertan. Doch es gibt ein einfaches und schnell wirksames Werkzeug, mit dem genau das gelingt: „Schreiben & Zuhören“. Es sorgt dafür, dass alle Teammitglieder den nötigen Denkraum bekommen, eine eigene Antwort formulieren und allen gleich lange zugehört wird. Das aktive Zuhören und bewusstes Schweigen bringen Flow und Vielfalt in die gemeinsame Arbeit.

Wer kennt es nicht: In einem Meeting spricht eine Person, die anderen schweigen und werden „zugetextet“. Die Perspektiven, Ideen und Erfahrungen der Mehrheit des Teams werden so nicht genutzt.

A cartoon of a group of people Description automatically generated

Eine häufige Szene in Teamsitzungen (Quelle: Veronika Kaiping).

Eine andere Szene: Marion und Shawn führen in einer Sitzung, an der insgesamt zehn Personen teilnehmen, eine Diskussion. Diese wird immer hitziger, und beide versuchen sich gegenseitig zu überzeugen. Die anderen acht Personen können dem Schauspiel nur zuschauen, sich aber nicht einbringen. Die Diskussion driftet immer mehr vom eigentlichen Thema ab. Simone denkt: „Welch kolossale Zeitverschwendung!“

Auch Hierarchien führen oft dazu, dass die Vielfalt der Ideen im Keim erstickt wird: In einem Meeting erzählt Teamleiter Sven, dass für ein Kunden-Mailing gute Ideen gefragt sind und dass er das heute mit dem Team entwickeln möchte. Die meisten haben sofort eine Idee im Kopf. Sven fährt direkt fort und erzählt begeistert von seiner Idee. Ohne weitere Vorschläge zu hören fragt er das Team, was es davon hält. Weil das Team so konditioniert ist, pflichten alle Mitglieder bei, dass Svens Idee super sei. Ihre eigenen Ideen bleiben unausgesprochen und hatten nie eine Chance, das Licht der Welt zu erblicken. Der Teamleiter ist glücklich, dass das er sein Team erfolgreich abgeholt hat.

Das Übersteuern von unausgesprochenen Ideen (Quelle: Veronika Kaiping).

Gamechanger für die Teamsitzung

Das Gegengift für solch frustrierende Erlebnisse, Muster und Gewohnheiten ist das simple Werkzeug „Schreiben & Zuhören“. Dabei erhält jede Person in der Sitzung zuerst zwei Minuten Denkraum, um einen eigenständigen Beitrag zu einer Frage zu entwickeln. Anschließend liest jede Person ihren Beitrag vor, während alle anderen aufmerksam zuhören. Es wird nicht diskutiert und nicht kommentiert.

Das Werkzeug verkürzt Sitzungen und macht sie gleichzeitig interessanter und ergiebiger. Alle nehmen aktiv teil und lernen etwas. Das Team wertschätzt dabei auch permanent die unterschiedlichen Skills und die Diversität im Team und arbeitet somit an der Teambildung.

Durch die Verschriftlichung der Beiträge entsteht im Prozess wertvolles Material, das im Anschluss weiter verwendet werden kann. Man kann es priorisieren, clustern, verdichten und damit nächste Schritte und Konkretisierungen starten.

Meist wird das Werkzeug in einem Team angewendet, das täglich zusammenarbeitet. Es eignet sich aber auch für teamübergreifende Projekte und dafür, das Wissen und die Erfahrungen von Menschen verschiedenster Hintergründe und Hierarchiestufen zusammenzuführen. Zudem lässt es sich für viele weitere Prozesse nutzen, etwa zur Ideenfindung, Entscheidungsfindung oder Reflexion.

„Schreiben & Zuhören“

  • schafft ein ausgewogenes Verhältnis von Schweigen, Denken, Schreiben, Reden und Zuhören.
  • ist das einfachste Werkzeug, um die ganze Diversität des Teams produktiv zu nutzen und um alle Personen in Rekordzeit einzubeziehen.

Der Ablauf von „Schreiben & Zuhören“

Die Vorgehensweise ist gut strukturiert, sodass Sie das Werkzeug jederzeit in drei Schritten einsetzen können.

Schritt 1: Offene Frage stellen

„Schreiben & Zuhören“ beginnt mit einer offenen Frage, die zu einem aktuellen Thema der Sitzung passt und zu der es interessant wäre, alle zu hören. Solche Fragen sind zum Beispiel:

  • Jemand schildert ein Problem oder eine Herausforderung: „Wie würdest du das lösen?“
  • Es werden noch frische Ideen gebraucht: „Welche Ideen fallen dir ein?“ Oder: „Welche Maßnahmen würdest du vorschlagen?“
  • Nach einem Vortrag oder einer Präsentation: „Was geht dir dazu durch den Kopf?“
  • Etwas Neues wird vorgestellt oder eingeführt: „Was sollten wir unbedingt beachten?“
  • Im Arbeitsprozess geht es nicht vorwärts: „Wie können wir wieder Flow in dieses Projekt bringen?“
  • Als Abschlussfrage nach einem Workshop oder einer Sitzung: „Wie war das Meeting für dich?“

Die Qualität des Werkzeugs hängt stark von der Art und Weise der Frage ab, die Sie stellen. Je offener die Frage, desto mehr regen Sie die Gehirne der Teilnehmer an und desto interessantere Antworten erhalten Sie. Und desto mehr lernen die Personen beim Zuhören übereinander und voneinander. Achten Sie also darauf, eine Frage so zu stellen, dass die anderen Teilnehmer*innen sie auf viele Arten beantworten können.

Vermeiden Sie zum Beispiel geschlossene Fragen wie: „Hältst du das für eine gute Idee?“ Denn diese Fragen können nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden. Zielführender ist diese offene Frage: „Was findest du an dieser Idee gut oder schlecht?“ Diese Frage lenkt das Gegenüber zu den zwei gegensätzlichen Polen. Noch besser ist diese Frage geeignet: „Was geht dir zu dieser Idee durch den Kopf?“ Hier kann die Gesprächspartner*in alles, was ihr zu der Idee einfällt, notieren: Fragen, Tipps, was er gut findet oder was schlecht, was er stattdessen machen würde, wo er so etwas Ähnliches schon gesehen hat etc.

Es gibt viele Fragen, die auf den ersten Blick offen klingen, aber eigentlich nur eine limitierte Art von Antworten zulassen. Sie sind für die Eröffnung einer typischen Diskussion meist ein guter Einstieg, aber für „Schreiben & Zuhören“ nicht geeignet, weil sie eigentlich Ja-/Nein-Fragen sind. Zum Beispiel: „Geht das in die richtige Richtung?“, „Sind wir damit auf Kurs?“ oder „Können wir damit unser Problem lösen?“

Die beste offene Frage ist eine, die auf verschiedenste Arten verstanden werden kann. Sie darf sogar etwas unklar sein, sodass alle Anwesenden sie unterschiedlich interpretieren können und dazu angeregt werden, in die unterschiedlichsten Richtungen zu denken.

Solche Fragen können spontan eingesetzt werden, es kann sich aber auch jemand im Vorfeld der Sitzung entsprechende Fragen überlegen. Dazu ein Beispiel für ein Set an Fragen (Thema: Event für Kunden):

  1. „Wie können wir Kund*innen an unserem Event für unsere Dienstleistung begeistern?“
  2. „Was soll den Kund*innen nachhaltig in Erinnerung bleiben?“
  3. „Was wünschen sich Kund*innen am meisten von uns?“
  4. „Was möchten wir auf keinen Fall?“

Schritt 2: Denken und Schreiben

Nun erhält die gesamte Runde zwei Minuten zum Nachdenken und Aufschreiben von einer oder zwei Antworten auf die (erste) Frage. Jede Person schreibt ihre Antwort(en) auf je ein Post-it. Das können physische Post-its sein oder – zum Beispiel in Onlinesitzungen – digitale Kärtchen.

Schritt 3: Vorlesen und Zuhören

Jetzt liest jede*r kurz vor, was er/sie notiert hat. Die anderen hören interessiert zu. Wichtig: Es wird nichts kommentiert oder diskutiert. Jede neue Frage nimmt pro Runde sieben bis zehn Minuten in Anspruch. Pro Person stehen jeweils zwei neue Post-its zur Verfügung.

Timing für jeweils eine Frage:

  • Frage stellen (ca. 1 Min.).
  • alle denken nach und beschriften ein bis zwei Post-its (ca. 2 Min.),
  • Vorlesen pro Person (½–1 Min. bzw. 45 Sek.),
  • Rechenbeispiel für eine Runde mit sieben Personen (1 Min. + 2 Min. + 7 x 1 Min. = max. 10 Min.)

Nachdem auf diese Weise alle Fragen bearbeitet wurden, kann der Prozess beendet werden. Denn das Team wird erfahrungsgemäß bereits zu einem gemeinsamen Verständnis gefunden haben. Wenn es weitere Fragen gibt, kann der Ablauf für diese wiederholt werden.

Mögliche Fortsetzung: Priorisieren und
konkrete Lösung oder Idee entwickeln

Wenn zu allen Fragen der Prozess von „Schreiben & Zuhören“ abgeschlossen ist, können die beschrifteten Post-its mit dem Team priorisiert werden, um dann gemeinsam eine konkrete Lösung oder Idee zu entwickeln. Als Beispiel nutzen wir das oben erwähnte Thema „Event für Kund*innen“:

  • Die vier Fragerunden geben der Projektleiterin des Kund*innen-Events schon genügend Informationen, um das Projekt zu planen und die Ideen und Bedürfnisse des Teams zu integrieren. Möchten sie und das Team die Inputs gemeinsam konsolidieren, geht das wie folgt:
  • Das Ergebnis der vier Runden sind 40 bis 60 Post-its mit Ideen und Aspekten zum Kund*innen-Event.
  • Alle diese Post-its werden so ausgelegt, dass jede Person sie bequem und in Ruhe durchlesen kann. Das geht am besten, wenn die Post-its nebeneinander aufgereiht sind (wie die Wäsche auf einer Wäscheleine).
  • Alle Personen lesen alle Post-its durch und geben denen, bei denen ihnen das Herz aufgeht oder die sie für relevant halten, einen Punkt. Alle dürfen so viele Post-its bepunkten, wie sie möchten. Das sollte lieber großzügig als knausrig gehandhabt werden
  •    Die Post-its mit den meisten Punkten (z. B. Top 10) ergeben die priorisierte Ideensammlung des Teams.

Mit den Elementen, die beim Anwenden von „Schreiben & Zuhören“ entstehen, kann das Team weiterarbeiten, etwa indem alle Teilnehmer*innen die entstandenen Bausteine priorisieren (Quelle: Generation Purpose).

Wie „Schreiben & Zuhören“ den Flow fördert

Das Werkzeug trägt maßgeblich dazu bei, den Arbeitsfluss zu verbessern, indem es verschiedene Elemente wie Klarheit, Fokus, Teamwork und Wertschätzung fördert und alle Beteiligten gleichermaßen einbezieht. Während des Prozesses werden die Perspektiven und Erfahrungen des gesamten Teams gehört und berücksichtigt, was zu einer umfassenderen Betrachtung des Problems und einer größeren Beteiligung aller führt.

Diejenigen, die ein Projekt oder Vorhaben leiten, können von den Beiträgen aller profitieren und müssen nicht alles allein entwickeln. Darüber hinaus wird durch diese Methode eine Atmosphäre der Wertschätzung geschaffen, in der jede Antwort als potenzieller Beitrag zur Lösung angesehen wird und die verschiedenen Denkweisen der Teammitglieder geschätzt werden.

Die klare Struktur der Methode sorgt dafür, dass alle Teilnehmer*innen sich aktiv einbringen und ihr Potenzial ausschöpfen können, was oft zu einem „magischen Moment“ führt, in dem sich eine Lösung herauskristallisiert, die allen einleuchtet, ohne dass es eine Diskussion dazu braucht.

Diese positive Erfahrung und die damit verbundene psychologische Sicherheit tragen dazu bei, dass sich die Teilnehmer*innen ermutigt fühlen und sich mehr einbringen, und zwar ohne Angst vor Kritik oder Verletzungen. Der Austausch von Gedanken und Ideen führt dazu, dass die Ergebnisse breiter, tiefer und robuster sind als bei einem individuellen Denkprozess. Insgesamt verbessert sich durch die Anwendung der Methode nicht nur der Arbeitsfluss, sondern auch die Qualität und Tragfähigkeit der Ergebnisse.

„Schreiben & Zuhören“ als Geschenk nutzen 

Oft trauen sich Teammitglieder nicht, ihre Challenges und Probleme mit anstehenden Arbeiten in die Teamsitzung zu bringen, weil sie sich sorgen, dass das Thema zerredet wird oder dass sie Anweisungen bekommen, wie sie ihre Arbeit erledigen sollen. Mit „Schreiben & Zuhören“ kann jede*r zu einer Frage, die ihn/sie aktuell bewegt, Inputs des Teams sammeln und diese einfach als Geschenk mitnehmen, ohne dass er/sie die Autonomie über seine/ihre Arbeit aufgibt.

A group of cartoon characters Description automatically generated

Ideen und Hinweise zu Herausforderungen, die ein Teammitglied in die Sitzung bringt, sind willkommene Geschenke (Quelle: Veronika Kaiping).

Wie Diskussionen den Flow bremsen – und wie sich das verhindern lässt

Sie denken jetzt vielleicht: „Eine gute Diskussion ist etwas sehr Schönes und Wichtiges! Wenn ich nur noch ,Schreiben & Zuhören‘ nutze, gibt es keine Diskussionen mehr.“

Diskutieren klingt gut, und sicher haben Menschen, die eine Diskussion führen möchten, die allerbesten Absichten. Man möchte sich austauschen, zuhören, reagieren, sich spontan mitteilen. Doch leider laufen auch unter guten Bedingungen Diskussionen nicht so ab, dass sie den Flow in der Gruppe erhöhen oder den Workflow stärken. Eine typische Diskussion ist oft vielmehr ein Ping-Pong zwischen wenigen Personen. Ein, zwei, vielleicht drei Personen reden, die anderen hören zu, vielleicht sehr interessiert, vielleicht aber denken sie auch über etwas ganz anderes nach. Das Problem: Diejenigen im Raum, die sich nicht aktiv an der Diskussion beteiligen, bringen ihre wertvollen Perspektiven nicht ein. Zudem werden die ausgetauschten Argumente nirgends festgehalten oder notiert, sondern verpuffen.

Darum gilt: Eine typische Diskussion kann das Team auf vielfältige Weise bremsen. Die meisten Diskussionen in Sitzungen verlieren sich in Details und benötigen viel mehr Zeit und Energie als geplant. Ein weiteres Hindernis ist, dass Einzelpersonen oft ihre Gedanken monopolisieren und andere nicht einbeziehen, was das Teamwissen außen vor lässt und die Gefahr von ineffektiven Lösungen erhöht. Spontane Diskussionen führen dazu, bestimmte Perspektiven auszuschließen, und können eine toxische Teamkultur fördern, wenn sie in einem Wettkampf um das beste Argument münden, statt unterschiedliche Standpunkte besser zu verstehen und konstruktive Lösungen entstehen zu lassen.

Eine weitere Gefahr ist, dass einzelne Teammitglieder sich gar nicht mehr einbringen, weil sie denken, dass ihre Meinung nicht gefragt ist. Das führt zu Frust. Typische Diskussionen liefern zudem keine schriftlich verfügbaren Gedanken, die weiter verwendet werden können.

Doch nun die gute Nachricht: Teams aus allen Branchen und Organisationsformen berichten uns, dass sie den Flow im Team und in ihrer Arbeit dank der regelmäßigen Nutzung von „Schreiben & Zuhören“ massiv steigern konnten. Darum: Probieren Sie es einfach aus und sammeln Sie Ihre eigenen Erfahrungen!

A couple of men holding signs Description automatically generated

Laurent Burst und Nadja Schnetzler (Fotografin: Ella Mettler).

Nadja Schnetzler und Laurent Burst
Strateg*innen, Ideenentwickler*innen und Projektgründer*innen; seit 30 Jahren gehen sie der Frage nach, wie Menschen am besten zusammenarbeiten können. Gemeinsam haben sie schon vielen Firmen, Organisationen, Projekten und Start-ups auf der ganzen Welt zum Erfolg verholfen. In über 500 Projekten mit mehr als 10.000 Menschen aus allen Branchen haben sie das Flow-Zusammenarbeitsmodell entwickelt und in unzähligen Organisationen als transformierendes Element eingesetzt (www.flow-zusammenarbeit.com).

Lade dir hier eine PDF-Version dieses Artikels runter

Share the Post:

Arbeitsflow per Agreement 

Jedes Team verfügt über eine eigene Kultur aus Werten, Haltungen und Verhaltensweisen, die von den individuellen
Interessen, Bedürfnissen und Ansichten
der Teammitglieder beeinflusst und durch
sie gebildet wird.

Read More

Effizienz neu gedacht

Anstatt zu versuchen, Operational Excellence mittels eines anspruchsvollen Frameworks zu erreichen, hilft ein einfacher Hebel mehr, weil er alle Menschen durch die ganze Organisation einbinden kann: Der konsequente Fokus auf Flow.

Read More